Historisches

Vor 50 Jahren – der frühe Tod zweier Berliner Gitarristen

Zum Gedenken an Norbert Bellmann (05.01.1940 – 03.08.1970)
und Peter Liebert (20.03.1939 – 24.08.1970)

ein Beitrag von Rainer Stelle

Zwei Tatsachen verbindet diese beiden: Sie haben beim selben Gitarrendozenten studiert und sind im selben Jahr verunglückt – innerhalb eines Zeitraumes von nur drei Wochen. Ob die beiden Todesfälle in irgendeinem Zusammenhang stehen, wird sich wohl nie mehr klären lassen. Ich habe vor 38 Jahren zum ersten Mal von den beiden gehört, als ich von West-Berlin aus die Witwe von Willi Schlinske (1904–1969)[1] in Ost-Berlin angerufen hatte, die mir von den drei hervorragenden Schülern ihres Mannes berichtete: Norbert Bellmann, Peter Liebert (und die sich immer noch bester Gesundheit erfreuende Lilo Gradmann/Kliem). Margarete Schlinske (1907–1987) erzählte mir, dass sie tragischerweise genau ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes verunglückt sind.[2] Erst viel später – nach der Wende – erfuhr ich Konkreteres über das Schicksal der beiden vielversprechenden Talente.

Norbert Bellmann wurde am 05.01.1940 in Breslau geboren. Wie und wann er mit seinen Eltern nach Berlin gekommen sind, ist nicht bekannt. Er studierte etwa 1958–1963 Gitarre bei Willi Schlinske an der Deutschen Hochschule für Musik in Ost-Berlin, die 1964 in Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ umbenannt wurde. Er war ein äußerst talentierter Musiker, der den Mitstudenten stets voraus war.[3] Manfred Uhlmann (*1938), der bei Dieter Rumstig (1928–2017) an derselben Hochschule Gitarre studierte und später in Frankfurt/Oder ein erfolgreicher Pädagoge war, berichtet, dass er mit Bellmann Anfang der 1960er Jahre regelmäßig Duo gespielt hat.[4] Bellmann gab Konzerte und war als Gitarrenlehrer tätig, u.a. am Kreiskulturhaus Treptow, wo Fred Krüger 1963–1965 von ihm zur Hochschulreife gebracht wurde, so dass er danach bei Werner Pauli an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ studieren konnte.[5] Bekannt wurde Bellmann als Ensemblemitglied des Maxim-Gorki-Theaters in Berlin-Mitte, wo er als Gitarrist und Sänger angestellt war.[6]

Mit seinem ehemaligen Schüler Fred Krüger (*1946) war er jahrelang befreundet. Diese Freundschaft fand am 03.08.1970 auf tragische Weise ihr Ende. Bei einer gemeinsamen Motorradtour – Krüger saß am Lenker, Bellmann saß als Beifahrer dahinter – geschah es: Aus nicht bekannten Gründen kam es in Berlin zu einem schweren Unfall, bei dem beide schwer verletzt wurden. Nur Fred Krüger überlebte. Er bekam vom Gericht bestätigt, dass er keine Schuld an dem Unfall hatte. Trotzdem war es natürlich sehr schwer für ihn, dieses Geschehen zu verarbeiten.[8]
Bellmann hinterließ Frau und Tochter. Seine Tochter, die zu dem Zeitpunkt sechs Jahre alt war, hat durch ihre Mutter nichts von ihrem Vater erfahren: Sie war so betroffen, dass sie nicht über ihn reden konnte. Ein schwerer Verlust für die Familie und die Berliner Gitarrenszene. Erst 2016 hat seine Tochter eine Gedenkseite für ihren Vater im Internet erstellt.[9]

Peter Liebert wurde am 20.03.1939[10] in Berlin-Tiergarten geboren – und lebte mit seinen Eltern im Westteil Berlins. Als Neffe des renommierten Berliner Hochschullehrers Willi Schlinske bekam er vermutlich schon etwa ab 1950 Gitarrenunterricht von ihm. Das erste bekannte Konzert, an dem er beteiligt war, fand am 09.04.1954 in Berlin-Mitte, Unter den Linden statt – im Marmorsaal des Zentralen Hauses der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Das Konzert trägt den Titel „Musik für Volksinstrumente“, ausgeführt vom Volksinstrumentenorchester der Hochschule für Musik, Weimar (Leitung: Franz Krieg) – und es wurde Kammermusik geboten mit Erich Bürger (Mandola), Peter Liebert (Gitarre), Alfred Münzberg (1. Mandoline), Willi Schlinske (2. Mandoline) – so die originale alphabetische Reihenfolge der Zupfmusiker auf dem Programm, zu dem Kurt Schwaen Erläuterungen schrieb; Roland Zimmer war als Solist dabei. Überliefert ist auch, dass Peter Liebert regulär bei seinem Onkel Gitarre studierte, aber nicht an der Hochschule, sondern privat.[11] Es ist davon auszugehen, dass er nicht zu einem Hochschulstudium im Ostteil der Stadt zugelassen wurde, denn die DDR existierte ja bereits seit 1949 – und nach Lesart der DDR-Oberen gehörte Ost-Berlin zur DDR. So musste er zum Unterricht immer den weiten Weg zu Schlinskes Wohnung in den Ortsteil Adlershof (Treptow), Adlergestell 253/255, fahren. Da war man von Wilmersdorf, wo Liebert wohnte, bestimmt über eine Stunde mit der S-Bahn unterwegs. Der reguläre Unterricht konnte logischerweise nur bis zum 13.08.1961, dem Tag des Mauerbaus, stattfinden. Von diesem Tag an war es Westberlinern untersagt, nach Ost-Berlin zu fahren. Es gab dann später (erstmals Weihnachten 1963) durch das Passierscheinabkommen die Möglichkeit, nahe Verwandte im Ostteil zu besuchen – sicher nicht geeignet, um das Gitarrenstudium fortzusetzen. Offenbar war Liebert aber im Studium so gut fortgeschritten, dass er Berufsmusiker werden konnte. Er wurde Gitarrenlehrer an den Musikschulen[12] Berlin-Wilmersdorf und Berlin-Steglitz, wo u.a. Michael Ranke (1931–2011, später über Jahrzehnte Gitarren- und Blockflötenlehrer an der Musikschule Berlin-Zehlendorf) und Thomas Kalep in den späten 1960er Jahren seine Schüler waren.[13] Auch leitete Peter Liebert an der Musikschule Wilmersdorf ein Gitarrenensemble. Einer der Mitglieder dieses Ensembles, Rainer Voigt (*1944, später selbst dort viele Jahre als Gitarrenlehrer tätig), erinnert sich: „Ich wurde 1961 Mitglied in diesem Ensemble, das in der Pfalzburger Straße 30 (heute ein Standort der Nelson-Mandela-Schule) probte und blieb ein gutes Jahr. Ich wurde gleich für die 1. Gitarre eingeteilt und war mächtig gefordert. Es hat mir viel Freude bereitet und ich lernte dort fabelhaft das Zusammenspiel mit anderen Musikern. Liebert war mir vom ersten Augenblick an sympathisch“.[14]
Im Jahre 1969 stieß Liebert zur „Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher an den Musikschulen Berlins AMB e.V.“ Hier waren auch viele Berliner Gitarrenlehrer organisiert. In Bruno Henzes Nachlass z.B. findet sich ein Mitgliedsausweis der AMB und eine Karteikarte mit Namen, Adresse und Kontonummer von Liebert.
Bei der AMB war Liebert als Schriftführer tätig. Zu seinem Ressort gehörte auch: „Verbindung zur GEW, Aktenführung und Vervielfältigung“. Der Brief vom 09.03.1970 „An alle Lehrer der Musikschulen Berlins“ ist von ihm mit unterzeichnet. Niklas Trüstedt, der damalige 1. Vorsitzende der AMB, in Berlin bekannt als Gambist und Hochschullehrer, berichtet: „Peter Liebert war sehr engagiert in seiner Arbeit für die AMB. Dann war er plötzlich – ohne erkennbaren Grund – mehrere Wochen lang seelisch angeschlagen, wirkte traurig, bis er eines Tages nicht mehr erschien und auch nicht erreichbar war. Ich erfuhr später, dass er verunglückt ist. Ob es ein Verkehrsunfall war, weiß ich nicht. Er war nicht verheiratet.“[15] Nun kann man sich natürlich seine Gedanken machen, woher diese Niedergeschlagenheit kam. Ein Grund könnte sein, dass erstens sein Onkel und Gitarrenlehrer Willi Schlinske am 10.08.1969 verstorben war – im Alter von 65 Jahren – und zweitens am 03.08.1970 (genau drei Wochen vor Liebert) der andere Schlinske-Schüler Norbert Bellmann verunglückt war. Fest steht nur, dass Peter Liebert am 24.08.1970 in Peine (Niedersachsen) verstorben ist. Da es die Zeit der Sommerferien war, liegt die Vermutung nahe, dass der Unfall bei einer Urlaubsfahrt geschah.

Quellen:
[1] Rainer Stelle: „Zum 100. Geburtstag des Gitarristen und Mandolinisten Willi Schlinske“, in: Concertino Nr.3/2004, Hamburg, S. 130-132.
[2] Telefon-Interview mit Margarete Schlinske vom 29.06.1982 (Die Telefonnummer hatte ich mir vorher aus dem Telefonbuch in einer Ost-Berliner Telefonzelle herausgesucht, als ich mit Passierschein dort die historische Berliner Mitte erkundete – so ging das damals.)
[3] Interview mit Lilo Kliem vom 21.10.2017
[4] Brief von Manfred Uhlmann vom 11.12.2016
[5] Lebenslauf von Fred Krüger von 1989
[6] https://www.gorki.de/sites/default/files/mgt_1961_1970.pdf
[7] https://www.vinyl-hst.de/und-keiner-wird-uns-zum-halten-zwingen-lieder-und-songs.html
[8] E-Mail von Professor Werner Pauli vom 16.12.2019
[9] https://www.gedenkseiten.de/norbert-bellmann/
[10] Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, Berlin: Auskunft vom 13.05.2019 über Geburtsdatum, Sterbedatum, Geburtsort und Sterbeort von Peter Liebert
[11] Interview mit Lilo Kliem vom 21.10.2017
[12] Kithara Nr. 3/1965, Laren/Nordholland (Gitarrenzeitschrift), S. 8
[13] Interview mit Michael Ranke vom 25.05.1988
[14] Interview mit Rainer Voigt vom 28.04.2016
[15] Telefongespräch mit Niklas Trüstedt vom 26.01.2019